Berlin: Wir sind Marathon(is)!

Alle guten Dinge sind drei. Ein abgelutschter Spruch, aber er könnte nicht passender sein. Würde es im dritten Anlauf beim dritten Berliner klappen? Gemeint ist mein fünfter Marathon, der im vergangenen Jahr einfach nicht sein sollte. Den Vienna City Marathon (VCM) musste ich aus gesundheitlichen Gründen canceln und beim Amsterdam Marathon im Oktober holte ich mir mein erstes und bisher einziges DNF. So kann’s gehen. Zwei Versuche, zwei Nieten, beim dritten hoffte ich daher umso mehr, dass ich nach zwei Jahren endlich wieder die Finishline eines Marathons sehen und damit mein Marathon Comeback geben würde. Mit dem Berlin Marathon hätte ich mir keinen besseren aussuchen können. Dennoch war dieser eigentlich nicht meine erste Wahl. Valencia sollte es ursprünglich sein. Ich wollte mir Zeit lassen, eine gute Vorbereitung haben. Doch – um bei abgelutschten Sprüchen zu bleiben – unverhofft kommt eben doch oft und so konnte ich der Einladung von Andy Perer im Team von Runners Unlimited nicht nur dabei, sondern auch am Start zu sein, nicht wiederstehen und sagte am 1. August aus vollem Herzen Ja, ich will! (die Geschichte dazu gibt es hier)

Freitag, 14. September

3:00 Uhr. Ich schaue auf den Wecker. Die Aufregung lässt mich nicht mehr schlafen. Um 3:30 Uhr stehe ich schließlich auf, denn Treffpunkt am Flughafen ist bereits um 5:15 Uhr. Michael (Mike) Koller und Andreas Kraft, beide ebenfalls im Team von Runners Unlimited, warten bereits in der Abflughalle. Insgesamt 120 Teilnehmer haben sich über den größten Sportreiseveranstalter Österreichs angemeldet. Immer mehr trudeln am Flughafen ein und die Stimmung ist trotz der frühen Stunde gut. Es geht endlich los!

Die nächsten beiden Tage komme ich nicht dazu, nervös zu sein. Freitag und Samstag bin ich damit beschäftigt, mich um die Teilnehmer zu kümmern. „Wo finde ich meine Tracking-ID?“ oder „Ich laufe immer mit Musik, vor allem ab Kilometer 25 brauche ich die Ablenkung. Wie schaffe ich das ohne, denn Kopfhörer sind ja verboten?“. Fragen über Fragen tauchen auf und ich versuche sie gut wie möglich zu beantworten und aufkommende Nervosität zu senken. Dabei bin ich selbst mega aufgeregt und habe Bammel: der Fluch des fünften. Kann ich ihn im dritten Anlauf brechen?

Samstag 15. September

„Wenn du mit 5:30 anläufst, kann dir nichts passieren. Du warst die letzten Wochen so stark, das funktioniert ganz sicher. Wer 35 km mit 5:35 läuft, kann auch einen Marathon mit 5:30 laufen.“ Am Vortag telefoniere ich noch mit meinem Trainer, der mir meine kurze, aber sehr gute Vorbereitung in Erinnerung ruft und mich so mental stärkt. Vielen Dank an dieser Stelle! Stimmt, die langen liefen perfekt. Aber Marathon ist Marathon. Also traue ich mich nicht mehr, will nicht mehr, als auf der sicheren Seite bleiben. Auch im Hinblick auf meine weiteren Herbstpläne. Minimal schneller als meine Longjogs soll es daher sein. Mit einem guten Gefühl von Anfang bis Ende. Ob da am Ende 3:58, 3:49 oder was auch immer steht, ist mir vollkommen egal. Ich will nur eines: glücklich ins Ziel!

Sonntag, 16. September

7:15 Uhr. DER Tag. Der Bus ist bis auf den letzten Platz besetzt und dennoch herrscht ungewöhnliche Stille. Fast niemand spricht, alle scheinen mit sich selbst beschäftigt zu sein. In den Gesichtern spiegelt sich eine Mischung aus Ehrfurcht, Angst und Vorfreude. Wobei letztere nur sehr verhalten zu erkennen ist. Die letzten Stunden vor einem Marathon sind immer ein Gefühlschaos, ein Gedankenwirrwarr aus „schaffe ich es?“ und „yes, I can“.  Andy Perer, Reiseleiter und Chef von Runners Unlimited, kennt das nur allzu gut und hat neben wichtigen Infos (wo finde ich was) immer einen Schmäh parat. Die Stimmung ist also trotz sichtlicher Nervosität gut und kurz vor 7:30 Uhr machen wir uns schließlich mit zwei Bussen auf den Weg in Richtung Brandenburger Tor. Eine Serviceleistung von Andy, um uns Läufern den Fußweg zum Startbereich so kurz als möglich zu gestalten.

9:24 Uhr. Ich höre den Countdown für die zweite Startwelle, in der auch ich mich befinde. Mein Block F ist so voll, dass gerade einmal eine Handbreite zum Vordermann Platz ist. Geschätzt hundert oder gar hunderte Läufer stehen noch außerhalb vorm Zaun, passen gar nicht hinein. Ein paar Minuten später kommt Bewegung rein, wir nähern uns der Startlinie. Zuerst nur in kleinen Schritten, dann wird aus dem Gehen ein erstes Traben und schließlich ist sie da: los geht’s!

Auf den ersten fünf, sechs Kilometern ist es sehr schwierig einen Rhythmus zu finden. Gefühlt befinden sich in meinem Startblock Pacebereiche von 5:00 bis 6:30 oder gar noch darüber. Immer wieder laufe ich auf, komme an Gruppen, die nebeneinander laufen, nicht vorbei. Das ist nichts Neues. Irgendwann nahe dem Alexanderplatz finde ich rein und merke: hey, es läuft! Doch ich wiege mich noch lange nicht in Sicherheit. Ein Marathon ist lang. Sehr lang. Und wie man weiß, beginnt dieser ab km 35.

Berliner Mucke

Um mich herum ist Party pur. Die Berliner lieben ihren Marathon und verstehen es, die rund 44.000 Läufer (44.389 waren gemeldet, 40.775 haben das Ziel erreicht) anzufeuern. Live Bands (laut Veranstalter sind es etwa 60), DJs, Trommler und tausende Zuschauer sorgen dafür, dass die Kilometer verfliegen. Ich lasse mich voll drauf ein und freue mich, bald bei der Hälfte zu sein, denn da warten Andy und sein Team samt den Begleitpersonen unserer Gruppe. Als ich an ihnen vorbeikomme, wird geschrien und gejubelt, als wäre ich Eliud Kipchoge auf dem Weg zum Weltrekord. Ich bekomme Gänsehaut. Es ist ein unbeschreibliches Gefühl, wenn einen so viele Leute anfeuern. Das gibt einen enormen Push für die zweite Hälfte.

Ab diesem Zeitpunkt bin ich richtig in Fahrt. Ab und zu checke ich meine Uhr, im Grunde genommen laufe ich aber nach Gefühl. Einfach wie es passt, locker. Mir geht es gut und immer besser. Ich bin jetzt völlig im Flow, klatsche Kinderhände ab, trommle im Rhythmus der Musik auf meine Oberschenkel. Mein persönliches Highlight: die Grunewaldstraße, wo aus aufgestellten Musikboxen geile Clubmusik ertönt. Ich fühle mich zurückversetzt in „mein Berlin“ – meine Studentenzeit, die ich hier verbracht habe.

Je näher es in Richtung Ziel geht, umso besser geht es mir. Ab Kilometer 35 weiß ich, dass ich das Ding nach Hause bringe. Zu diesem Zeitpunkt könnte ich vor Freude platzen und auch wenn es lächerlich klingt, ich muss mich ernsthaft beherrschen, keine Freudenträne zu vergießen. Ich behalte den Rhythmus bei, es fühlt sich großartig an. Nach wie vor locker, keineswegs am Anschlag. Kilometer 38, 39. Nur noch drei Kilometer. Die Zuschauer waren die ganze Strecke über großartig, doch was nun abgeht, ist einfach nur wow! Party, Party, Party! Es lässt sich schwer in Worte fassen, man wird (um wieder abgelutscht zu klingen) tatsächlich von der Stimmung ins Ziel getragen. Die letzte Kurve und dann ist es endlich da: das Brandenburger Tor. In diesem Moment, gerade jetzt, als ich das hier schreibe, bekomme ich wieder Gänsehaut.

Alle guten Dinge sind drei

Die letzten Meter auf dem Weg ins Ziel kann ich nicht mehr klar denken. Ich bin unfassbar glücklich, als ich nach 3:52:24 die Ziellinie überquere. Ich habe es geschafft. Der Fluch des 5. ist gebrochen. Wie habe ich am Anfang geschrieben: Alle guten Dinge sind drei. Beim dritten Anlauf, beim dritten Berliner hat es geklappt. Und die Zeit passt auch dazu: dritt bester oder dritt schlechtester – je nachdem wie man es sieht. „Last Minute Ticket zum Mir-selbst-Vertrauen“ habe ich vor zwei Wochen an dieser Stelle getitelt. Es ist geglückt. Das Selbstvertrauen für die Königsdisziplin ist zurück. Valencia kann kommen!

Im Zielgelände werde ich beim Runners Unlimited „Bierstand“ wie alle Finisher jubelnd empfangen. Entgegen der Stille im Bus vor ein paar Stunden herrscht nun fröhliche Ausgelassenheit. Bier oder Sekt, es wird gefeiert. Egal mit welcher Zeit, was uns alle eint, ist die Liebe zum Laufen und die Medaille, die uns um den Hals baumelt. Wie ist es den anderen gegangen? Haben sie ihre Ziele erreicht?

Der Traum von der Premiere

„Ein Lebenstraum ist in Erfüllung gegangen. Die Reise war vom Treffpunkt am Freitag 5:15 in Wien bis Montag Ankunft 16:30 in Wien ein für mich unvergessliches Erlebnis und eine bestens organisierte Reise.“ So beschreibt Manuela Traunbauer ihren Berlin Marathon, der gleichzeitig ihr erster war.

Vorbereitet hat sie sich auf ihr Debüt seit Jänner 2018. „Die intensive Vorbereitung dauerte dann zehn Wochen mit einem Trainingsplan“, sagt sie. Warum Marathon? „Weil es für mich das Schönste ist einmal einen Marathon zu laufen und ich durch meinen Mann schon bei einigen als Zuseherin oder Halbmarathonstarterin dabei war und für uns klar war, wenn ein ganzer Marathon dann in Berlin.“

Die Zeit vom Brandenburger Tor bis ins Ziel sei der reine Genusslauf für sie gewesen. Ihren Mann hatte Manuela als Pacer an ihrer Seite. „Der Moment als ich nach 5:10:05 die Ziellinie überschritten habe, war unbeschreiblich. Ein eiserner Wille, haben es möglich gemacht das ich mich Marathon Finisherin nennen darf.“ Ob sie Blut geleckt habe? „Einen weiteren Marathon würde ich gerne bestreiten, da ich aber massive Knieprobleme habe, muss ich leider die Vernunft siegen lassen und wieder kürzere Distanzen laufen.“

Der Traum von Sub4

„Ich möchte so gerne einmal unter vier Stunden laufen.“ Als ich am Samstag beim letzten Aktivieren vor dem großen Tag neben Ursula Gastinger (siehe Bild unten, links) laufe, erzählt sie mir von ihrem großen Traum: Sub4. Ihre Augen funkeln. Man sieht ihr an, wie große der Wunsch ist. Hat sie es geschafft?

„Wenn du in der Startbox stehst, kommen immer Emotionen hoch. Man ist aufgeregt und es gehen einem viele Dinge durch den Kopf. Werde ich es in meiner insgeheim gehofften Zeit schaffen? Hoffentlich muss ich nicht auf die Toilette. Wie lange wird es mir gut gehen?“, erzählt sie. Beim Lauf selbst hatte sie sich an Pacer Mike Koller angehängt, der Runners Unlimited Teilnehmern dazu verhelfen sollte, die Vierstundenmarke zu knacken.

„Die ersten 21 km waren super easy, eigentlich ging es bis km 32 wirklich sehr gut. Dann kamen die ersten Ermüdungserscheinungen und ab da begann der Kopf zu arbeiten. Das Tollste aber war, dass ich Mike hatte, der mich die letzten Kilometer wirklich durchgetragen hat. So wurden es 3:58:52. Das hätte ich alleine nicht geschafft. Da wäre ich sicher langsamer geworden, hätte eine Toilette gesucht, oder viele andere Ausreden gehabt um mich das Tempo zu verringern“, sagt Ursula mit einem breiten Grinsen. „Alles in Allem war die Reise super toll organisiert. Man empfindet eine gewisse Verbundenheit mit den anderen Läufern. Egal wie schnell die einzelnen Leute laufen, alles haben ein gemeinsames Ziel: finishen!“

Der Traum von Sub3

Ein weiterer Teilnehmer unserer Reisegruppe war Alexander Rotter. Der Wiener hatte sich für seinen sechsten Marathon die Latte hochgelegt: erstmals unter drei Stunden wolle er in Berlin laufen, hatte er im Vorfeld gesagt. Ist es geglückt? Sein Resümee:

„Ironischerweise war ich echt nicht nervös. Ich war sogar die ersten zehn Kilometer noch im Halbschlaf“, sagt er und lacht. „Die Stimmung war echt gut. Die Leute haben einen förmlich vorangetrieben. Es hat mich auch wieder daran erinnert weshalb ich Marathon laufe“, meint er. Entgegen Manuela und Ursula zeigt er sich unzufrieden: „Der Lauf selbst war super, nur leider viel zu langsam. Nicht weil ich mein Ziel nicht erreicht habe, sondern weil ich mein Potential nicht ausgeschöpft habe. Das habe ich bei km 33 gemerkt das ich noch viele Reserven habe. Ich konnte die Zeit aber nicht mehr gut machen.“ 3:02:17 wurden es nämlich. Der Traum von der Dreistundenmarke ist geplatzt. Aber Alexander hat schon einen neuen Angriffspakt beschlossen: „Daher der Entschluss in Graz am 14. Oktober nochmal zu starten. Auch da ich so gut wie keine Erschöpfung verspüre.“

Entgegen seinem ersten Interview (ebenfalls hier nachzulesen) hat er seinen Meinung nach dem Berlin Marathon nun geändert: „Und auch wenn das geschafft ist, werde ich wohl immer wieder Marathon laufen. Es ist einfach zu schön.“

Der Traum vom Familien-Marathon

Last but not least Familie Mader, die mir auch in meinem ersten Beitrag schon Rede und Antwort gestanden ist und mir darin ihre Beweggründe, am Berlin Marathon teilzunehmen, erklärt hat. Vater Richard und Tochter Andrea wollten in Berlin Premiere feiern, für Mutter Sonja sollte es der zweite Marathon werden. Zielzeit unter fünf Stunden. Bereits im Vorfeld war klar, dass Andrea aufgrund einer Verletzung nicht am Start sein konnte. Wie ist es ihren Eltern gegangen?

„Die Stimmung am Start war grandios, obwohl wir rund eine Stunde auf unseren Start warten mussten. Wir liefen bis Kilometer 24 Seite an Seite und wollten auch so ins Ziel laufen. Da verspürte ich jedoch ein leichtes Ziehen im rechten Oberschenkel, und musste mit der Pace zurückgehen. Durch das verringerte Tempo konnte ich den Lauf dann aber noch mehr genießen, speziell die letzten Kilometer und dann mit Blick aufs Brandenburger Tor, das nur noch wenige hundert Meter entfernt war.“ Nach 5:48:05 war es geschafft. „Es war ein tolles Gefühl meinen ersten Marathon gefinished zu haben“, erzählt Richard.

Mutter Sonja lief ab km 24 alleine weiter, „was bei der Masse an Läufern nie wirklich der Fall war“, sagt sie. „Ab km 35 kam die Müdigkeit, die die restlichen Kilometer noch anstrengender machte. Aber dann das Brandenburger Tor zu sehen und zu wissen, das Ziel ist gleich da, war einfach nur traumhaft. Die ersehnte Medaille in den Händen zu halten ist genial und mit 5:26:56 um 19 Minuten schneller zu sein als im vergangenen Jahr, ist ein geiles Gefühl.“

Im Ziel gab es für die beiden eine herzliche Umarmung von Tochter Andrea, die mit der Runners Unlimited Fangruppe an der Strecke mitgefiebert hatte.

Der Traum von uns allen

Zu guter Letzt darf ein Highlight nicht unerwähnt bleiben: Wer vom Bierstand im Zielgelände nicht mehr auf eigenen Beinen zur S-Bahn gehen wollte (oder konnte), wurde von einer Rikscha kutschiert. Andy Perer (am Sattel Foto unten) hatte den Service für müde Läufer- und Begleiterbeine organisiert, der bei allen für eine besonders gelungene Abschlussüberraschung sorgte. „Das ist ein Traum!“, ruft mir Ursula zu und nimmt Platz. Stimmt. Wohlige Entspannung macht sich breit, als wir sanft schaukelnd zur S-Bahn kutschiert werden. Ich könnte ewig so weiterfahren. Aber nix da. Nach wenigen Minuten haben wir die Friedrichstraße erreicht. Umsteigen. Aus der Traum vom Rikscha-Schläfchen.

Im Hotel steigt am Abend die große Finisherparty. Glückliche Gesichter wohin das Auge reicht. Egal ob in 5:48, 3:02 oder 3:52. Was uns alle an diesem Wochenende verbunden hat, war ein gemeinsames Ziel: den Berlin Marathon zu laufen. Ich war das erste Mal mit einer Reisegruppe bei einem Marathon und kann sagen: Laufen verbindet und lässt Fremde zu Vertrauten und mitunter zu Freunden werden. Wie heißt es: Man sieht sich immer zweimal im Leben. Bestimmt.

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